TGA

BIPV: Ein Kürzel muss sich noch bewähren

Dienstag, 09.08.2022

Die Holländer machten den Anfang. Um die Energiewende im eigenen Land voranzutreiben – weg von Erdgas –, entwickelten sie das „Energiesprong“-Prinzip.

Das Bild zeigt die verschattenden BIPV-Elemente.
Quelle: Frauenhofer
Verschattende BIPV-Elemente am Stühlinger Rathaus in Freiburg. Multifunktional: lässt Licht durch, verschattet gleichzeitig, bietet Wetterschutz, generiert Strom – und Wärme.

Das Prinzip ist die serielle Sanierung von Gebäuden mit industriell vorgefertigten Baugruppen, die in kurzer Zeit montiert sind. Ein Beispiel dafür sind multifunktionale Solarfassaden, die zusätzlich zur Stromgewinnung auch der Wärmedämmung, der Tageslichtnutzung, dem Wind- und Wetterschutz und der Wärmebereitstellung dienen. Sie wirken wie photovoltaisch-thermische Kollektoren, kommen jedoch ohne Wasserkreis auf der Rückseite aus. Die ersten praktischen Erfahrungen hierzulande offenbaren allerdings auch (lösbare) Schwächen.

Hinter dieser Art der energetischen Aufrüstung steht das moderne Kürzel BIPV: bauwerkintegrierte Photovoltaik. BIPV zeichnet sich durch einen größeren Vorfertigungsgrad der Bauteile und geringe Montagezeiten aus. Unter anderem hat sich die Deutsche Energie-Agentur (dena) der Sache angenommen und im Auftrag der Bundesregierung Programme für einen Massenmarkt initiiert. Fraunhofer-Einrichtungen haben bereits den Faden aufgenommen. An den Instituten für Bauphysik IBP und für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE der Forschungsgemeinschaft designen Techniker ein Fassadenmodul, das die technische Gebäudeausrüstung (TGA) integriert und mit regenerativer Energie versorgt, um die dahinter liegenden Räume zu heizen, zu kühlen und zu lüften. Möglich machen es eine in die Modulfassade integrierte PV-Anlage zur Energieerzeugung, eine Kleinstwärmepumpe zum Heizen und Kühlen sowie ein dezentrales Lüftungsgerät mit Wärmerückgewinnung.

Das Bild zeigt die Versuchs- und Messeinrichtung in Holzkirchen.
Quelle: Frauenhofer
Versuchs- und Messeinrichtung in Holzkirchen. Das Zusammenspiel aller Komponenten funktioniert laut Fraunhofer bereits sehr gut.

Der Medizin entlehnt

Mit dem System lassen sich Bestandsfassaden sanieren, aber auch Neubauten können nachhaltig und energieeffizient ausgestattet werden. Alle erforderlichen anlagentechnischen Bauteile sind dabei in dem EE-Modul-Fassadenelement untergebracht, was zu einem hohen Vorfertigungsgrad führt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz fördert das Vorhaben. Projektpartner sind die Implenia Fassadentechnik GmbH als Konstrukteur der EE-Modulfassade. Das Unternehmen Lare GmbH Luft- und Kältetechnik konfiguriert die Wärmepumpe und die LTG AG ergänzt den Bereich dezentrale Lüftung.

Die Beteiligten sprechen, angelehnt an die Medizin, von einem minimalinvasiven Eingriff: „Wir renovieren nicht das komplette Gebäude, sondern nur die Fassade. Die alte Fassade wird künftig durch neue industriell vorgefertigte Module mit integrierter Anlagentechnik ersetzt“, erläutert Projektleiter und Wissenschaftler am Fraunhofer IEE Jan Kaiser. Planer und Investoren erhielten dadurch eine hohe Kostensicherheit und einen klar definierten Kostenrahmen. „Der Austausch erfolgt im Idealfall in nur wenigen Stunden. Da die Heiz- und Lüftungstechnik bereits integriert ist, müssen keine neuen Rohre im Gebäudeinneren verlegt werden. Die Fassade muss nur über einen Stromanschluss verfügen, um auch in Zeiten ohne PV-Strom die Räume klimatisieren und lüften zu können. Der Installations- und Abstimmungsaufwand an der Baustelle sinkt. Die Nutzer der Räume müssen während der Sanierung im Idealfall nicht extra ausziehen.“

Das Bild zeigt das IPV-Modul am VERU-Gebäude.
Quelle: Frauenhofer
IPV-Modul am VERU-Gebäude. Die Konstrukteure gehen davon aus, dass sich bei konsequenter Anwendung der BIPV-Methode der Verbrauch auf 600 GWh senken lässt.
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Modulfassade als Energiehülle

Die EE-Modulfassade eignet sich vor allem für Büro- und Verwaltungsgebäude und für Schulen, die in Skelettbau-weise errichtet wurden – eine Bauweise, die in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren vorherrschte. Anstelle von tragenden Wänden halten Stahlbetonstützen die Geschossdecken. Bei der Sanierung nehmen die Bauleute die alten Fassadenelemente ab und hängen die geschosshohen TGA-Module ein. Eine einzelne Technikeinheit misst 1,25 m in der Breite und 30 cm in der Tiefe. Jede Einheit kann einen ca. 24 m² großen Raum versorgen.

Die eingebaute PV-Anlage erzeugt die Energie und versorgt die Anlagenkomponenten wie etwa die Wärmepumpe. Die fungiert als Wärme- und Kälteerzeuger. Über einen im Luftspalt hinter dem PV-Element montierten Ventilatorkonvektor entzieht sie der aufsteigenden Thermik Wärme, heizt nach und gibt sie an den Raum hinter dem Modul ab. Muss sie kühlen, kehrt sich der Kreislauf um. Eine integrierte dezentrale Lüftungstechnik regelt den Luftwechsel und die Wärmerückgewinnung. Die gezielte Verschaltung von Luftklappen erfordert nur einen einzigen Ventilator. Dadurch minimiert sich der Stromverbrauch. Das von der LTG stammende Lüftungsgerät wechselt dabei zyklisch zwischen Zu- und Abluftbetrieb und atmet damit quasi. Darüber hinaus sorgen Vakuumdämmelemente für den Wärmeschutz.

Das Bild zeigt die EE-Modulfassade.
Quelle: Frauenhofer
EE-Modulfassade an der Südfrontdes Fraunhofer-VERU-Gebäudes im bayerischen Holzkirchen.

Enormes Potential

In Skelettbauweise entstanden etwa 25 bis 30 Prozent aller Bürogebäude in den 1950er bis 1990er-Jahren. Laut Fraunhofer beläuft sich deren Energieeinsatz auf jährlich rund 3.200 Gigawattstunden. (GWh). Sie seien das Potential für die EE-Modulfassade. Die Konstrukteure gehen davon aus, dass sich bei konsequenter Anwendung der BIPV-Methode der Verbrauch auf 600 GWh senken lässt. Auch die geringe Sanierungsquote von einem Prozent pro Jahr ließe sich durch den hohen Vorfertigungsgrad steigern.

Derzeit testen die Projektpartner den Demonstrator der EE-Modulfassade an der Südfront des Fraunhofer-VERU-Gebäudes im bayerischen Holzkirchen (VERU = Versuchseinrichtung für Energetische und Raumklimatische Untersuchungen). Zeitabhängig geregelte interne Wärme- und Feuchtequellen ersetzen die Nutzer. Das Zusammenspiel aller Komponenten funktioniert laut Fraunhofer bereits sehr gut, einzelne Bauteile müssten aktuell noch optimiert werden.

Als ein Erfahrungsschatz für diese Optimierung bieten sich verschiedene handgestrickte BIPV-Modelle in Deutsch-land an. Neu ist das Verfahren nicht. Nur haperte es bisher an der seriellen Umsetzung.

Ein spektakuläres Beispiel ging vor gut drei Jahren durch die Fachmedien. Damals stellten in Bad Hersfeld private Finanziers die multifunktionale Solarfassade an einem ehemaligen Schwesternheim des örtlichen Klinikums vor. Hans-Peter Sunkel und sein Bruder hatten 2015 das Gebäude gekauft mit der Absicht, es innovativ in Etappen zu sanieren. Der 1972 gebaute Plattenbau umfasst auf gut 2.000 m2 Wohnfläche 89 Wohnungen, die Mehrheit davon 1-Zimmer-Einheiten mit Bad. Ziel der energetischen Nachrüstung war und ist der Niedrigenergierespektive Passiv-haus-Standard.

Das Bild zeigt das Sunkel-Objekt Bad Hersfeld.
Sunkel-Objekt Bad Hersfeld: Hans-Peter Sunkelund sein Bruder hatten 2015 das Gebäude gekauft mit der Absicht, es innovativ zu sanieren, es umfasst auf gut 2.000 m2Wohnfläche 89 Wohnungen.

Beispiel Schwesternheim

Die marode Bausubstanz verzögerte jedoch den Beginn der Umbaumaßnahmen. Als Probleme erwiesen sich die Berechnung der Statik sowie, damit verbunden, das Anbringen der Photovoltaik-Module mit Dübeln. Es war keine übliche Maßnahme. Nach Aussage der Bauherren wollte kein Unternehmen die Verantwortung dafür übernehmen.

Die Gebäudehülle sollte auf den vorhandenen Waschbetonplatten mit darunter liegenden fünf Zentimeter Polystyrolplatten zusätzlich 16 Zentimeter Mineralwolle nebst Fixierung aufnehmen. Schließlich klappte es dann doch. Zur Realisierung des Passivhaus-Standards entschieden sich die Eigentümer des Weiteren für dreifach verglaste Fenster und Türen, Wärmepumpen, Wärmerückgewinnung sowie für PV-Paneele an drei Seiten und auf dem Dach mit einer Gesamtleistung von rund 240 kWp.

Als Besonderheit – Stichworte BIPV und Solar – hängten die Investoren vor die Außenwände im Abstand von 10 cm hinterlüftete multifunktionale Siliziumpaneele.

Multifunktional: Die monokristalline Struktur lässt Licht durch, verschattet aber auch gleichzeitig, bietet Wetterschutz, generiert Strom – und Wärme. Nämlich dadurch, dass die aufsteigende Thermik in dem solarerwärmten Spalt zwischen Wand und Kollektor zu drei Luft/-Wasser-Wärmepumpen im Dachboden mit einer regelbaren Heizleistung bis 20 kW strömt. Die temperieren das Heizungswasser sowie das Brauchwasser via Kombi-Hygienespeicher – jene mit dem Puffer plus den Wendeln als Durchlauferhitzer. Zur Solarthermie addiert sich die Abwärme der Wohnungen. Die entweicht über Abluftschächte aus den Wohnungen ebenfalls in Richtung Wärmepumpen. Im Winter übernimmt ein Brennwertkessel im Keller mit 86 kW die Spitzenlastabdeckung. !PAGEBREAK()PAGEBREAK!

Einige Überraschungen

Wie gesagt, die Sanierung zog sich hin. Doch hat die BIPV-Anlage mittlerweile, erstes Halbjahr 2022, drei volle Heizperioden hinter sich. Hat sich diese Systemarchitektur bewährt, fragte Heizungsjournal Investor Hans-Peter Sunkel. „Ich bin zufrieden.“ Das Adverb ‚sehr‘ setzt er indes nicht vor zufrieden. Warum die Abschwächung? „Weil wir noch an der Energieeffizienz-Schraube drehen müssen.“ Warum die Einbußen? Eigentlich haben die Bauherren ja kein Neuland betreten. Die Solar-Konfiguration entwarf die Galaxy Energy GmbH aus Berghülen bei Ulm. Die hat unter anderem das System am eigenen Verwaltungsgebäude realisiert und erprobt. Allerdings mit einem zwischengeschalteten Eisspeicher als Energiedepot. Laut Firmenaussage habe man in Berghülen mit der Effizienz keine Probleme. Der gemittelte COP von 4,0 spreche für sich.

Für die Zurückhaltung in Bad Hersfeld gibt es laut Eigentümer gestalterische und physikalische Gründe. Zu den gestalterischen gehört der Installationsort der Wärmepumpen im Dachfirst. „Die heiße Thermik in Verbindung mit den heißen Dachziegeln im Sommer führt an mehreren Tagen zu einer Umgebungstemperatur von über 40 °C. Da steigen die Wärmepumpen zur Warmwasserbereitung respektive die Elektronik aus. Sie schalten ab“, geht Hans-Peter Sunkel auf diesen Punkt ein.

Also muss eine Zwangsdurchlüftung mit öffentlichem Strom und Ventilatorkraft für Abhilfe sorgen. Des Weiteren führe die an manchen Tagen zu heiße Thermik zu einer erniedrigten Stromproduktion. Auch deshalb müsste die Rückseite der Paneele per Ventilation zwangsgekühlt werden. „Wir brauchen für den Mieterbedarf, für 89 Wohneinheiten, die Leistung. Wir brauchen 50 °C in den Hygienespeichern, damit 40 °C an den Zapfstellen gewährleistet sind.“

Problemlöser Batteriespeicher

Das heißt, man müsse nicht selten vollelektrisch nachheizen. Speicherbatterien und E-Ladesäulen zur Entzerrung von Angebot und Bedarf fehlen noch in der BIPV-Architektur in Bad Hersfeld. Die Bauherren planen deshalb eine Nachrüstung. Die würde nicht nur die anderen Probleme mildern, sondern auch die Energiekosten drücken. Zurzeit fließen zwei Drittel der Eigenstromproduktion ins öffentliche Netz und lediglich ein Drittel ins Haus. „Im vorletzten Jahr mussten wir 20.000 Euro an die Stadtwerke überweisen. Damit hatten wir nicht gerechnet“, so der Investor zum Heizungsjournal.

Und schließlich werde man auch die Mietverträge ändern. Im Moment sei der Stromverbrauch im Mietpreis inbegriffen, um sich den Abrechnungsaufwand zu ersparen. „Mit dem Nachteil, dass damit kein Anreiz zum Energiesparen gegeben ist. Die neuen Verträge werden eine Grundmenge enthalten und alles, was darüber hinaus geht, werden wir in Rechnung stellen.“

Galerie

  • Verschattende BIPV-Elemente am Stühlinger Rathaus in Freiburg. Multifunktional: lässt Licht durch, verschattet gleichzeitig, bietet Wetterschutz, generiert Strom – und Wärme.
  • Versuchs- und Messeinrichtung in Holzkirchen. Das Zusammenspiel aller Komponenten funktioniert laut Fraunhofer bereits sehr gut.
  • IPV-Modul am VERU-Gebäude. Die Konstrukteure gehen davon aus, dass sich bei konsequenter Anwendung der BIPV-Methode der Verbrauch auf 600 GWh senken lässt.
  • EE-Modulfassade an der Südfrontdes Fraunhofer-VERU-Gebäudes im bayerischen Holzkirchen.
  • Sunkel-Objekt Bad Hersfeld: Hans-Peter Sunkelund sein Bruder hatten 2015 das Gebäude gekauft mit der Absicht, es innovativ zu sanieren, es umfasst auf gut 2.000 m2Wohnfläche 89 Wohnungen.
Von Bernd Genath
Düsseldorf
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